Bernd, was ist dir aus 2020 ganz besonders im Gedächtnis geblieben – was waren deine Highlights?

Das Jahr 2020 wird natürlich auch für mich immer mit dem Coronavirus verbunden bleiben. Wie eigentlich alle Industrien hat die Pandemie auch unsere Branche in diesem Jahr stark beeinflusst. Wir erleben eine deutliche Verstärkung des Trends zu „Cocooning“, die Smart Home insgesamt antreibt. Die Menschen verbringen mehr Zeit zu Hause, was auch zu unserem ohnehin soliden Wachstum beiträgt.

Mein Highlight bei Homematic IP in 2020 war unser Advanced Routing, mit dem wir die Grenzen zwischen Funk und Bus im Smart Home verschwinden lassen haben. Unsere über 100 Funk- und Busgeräte können gemeinsam in einer Installation betrieben werden, entweder – wie gewohnt – mit der Smart-Home-Zentrale CCU3 oder jetzt auch mit der Homematic IP Cloud samt App. Außerdem lassen sich jetzt erstmals mehrere Access Points, also zentrale Steuereinheiten, in das System integrieren und als zusätzliche Router nutzen. Dadurch können unsere Kunden eine beliebig große Reichweite erzielen und genießen eine im Markt unerreichte Ausfallsicherheit.

Wie siehst du insgesamt die Smart Home Branche in Hinsicht auf Standardisierung und Allianzen wie CHIP („Connected Home over IP“), aufgestellt und wohin wird sich Smart Home entwickeln?

Wir haben bereits kurz nach der Gründung von CHIP erklärt, dass wir die Initiative ausdrücklich begrüßen. Ein Standard im Smart Home wäre für alle wünschenswert.

Mit CHIP ist endgültig klar, dass der Standard im Smart Home auf IPv6 basieren wird. Daran glauben wir schon mehr als 10 Jahre und wir sehen, was im Markt gerade passiert, als Bestätigung unserer Strategie. Bis heute hat sich TCP/IP als Standard in praktisch allen Bereichen der Daten- und Telekommunikation durchgesetzt und dabei frühere Standards komplett ersetzt. Wer hätte vor 10 Jahren gedacht, dass ISDN nicht mehr angeboten wird oder dass die GSM-Netze ab diesem Jahr abgeschaltet werden?

Ich bin aber eher skeptisch, was die Chance und Zeitvorstellungen von CHIP betrifft. Nach 17 Jahren ZigBee frage ich mich wirklich, ob Apple, Google und Amazon es zusammen mit allen anderen Playern in den Industrie-Allianzen schaffen, gemeinsam einen einheitlichen, offenen Standard zu entwickeln, der interoperable Produkte mit offenen Schnittstellen ermöglicht.

Warum bin ich hier skeptisch? Apple setzt jetzt auf WLAN und Bluetooth und hat letzteres in Thread eingebracht. Die CHIP Allianz ist formal als Gruppe in ZigBee betrieben. ZigBee wird sich aber wohl kaum für Bluetooth erwärmen. Die Partner in CHIP setzen sehr unterschiedliche Applikationsprotokolle ein. Auch über den Life Cycle von Geräten gibt es deutlich unterschiedliche Positionen. Zusammen mit den unterschiedlichen Funktechniken ist universelle Interoperabilität eine große Herausforderung.

Auch dass Gebäudetechnik wie KNX, DALI, BACnet jetzt auch – tatsächlich oder nur vermeintliche – auf IPv6 setzt, macht den Weg vorwärts nicht einfacher: Jeder möchte seine Investitionen bzw. die Produkte seiner Mitglieder schützen und möglichst viel seiner „Prä-IPv6“-Technologie in die Zukunft retten. eQ-3 ist hier in einer sehr glücklichen Position, da Homematic IP ja bereits auf IPv6 basiert.

Was ist Deine Vision für das Smart Home und hier insbesondere Home Control?

In einer Umfrage des Bitkom haben schon im vergangenen Jahr 63% der Befragten geantwortet, dass Smart Home Anwendungen in ein paar Jahren in jedem Haushalt zu finden sein werden. 33% haben gesagt, dass bei der Entscheidung für die nächste Wohnung oder das nächste Eigenheim Smart Home Anwendungen eine Rolle spielen werden.

Persönlich gehe ich davon aus, dass es in 10-15 Jahren so schwer sein wird, ein Haus ohne Smart Home bzw. Home Control zu verkaufen, wie man heute ein Auto ohne Klimaanlage verkaufen kann: Ohne dicken Preisabschlag gar nicht (!). Home Control wird zum Standard eines Hauses, so wie es Elektrizität, Zentralheizung, Telefon, Kabelfernsehen und auch Internetzugang über die Jahre geworden sind. Der Umkehrschluss ist, dass jeder einen Fehler macht, der sein Haus heute noch mit „tradierter Elektromechanik“ für Lichtschalter, Rollladenschalter und einfache mechanische Heizkörperthermostate baut.

Eines der Themen, die die Homematic IP Nutzer 2020 besonders bewegt haben, war die Gerätegrenze. Seit dem Dezember 2020 ist dies – auch dank Advanced Routing – Geschichte. Ein Thema was der Community fast ebenso am Herzen liegt, ist HomeKit. Kannst du uns sagen wie der Stand der Dinge ist?

Eigentlich sind wir begeistert, dass sich eine maximale Anzahl von 80 Geräten bei Homematic IP schon 5 Jahre nach dessen Einführung zu Recht als Problem in der Community abzeichnet. Wer hätte vor 10 oder 15 Jahren geglaubt, dass eine relevante Anzahl von Anwendern mehr als 80 Home Control Geräte in einem Haus betreiben möchte? Mit Advanced Routing kann die Geräteanzahl und gleichzeitig die räumliche Ausdehnung eines Homematic IP Netzes praktische beliebig wachsen und wird real kein Limit darstellen.

Zugleich bieten wir dank Advanced Routing und Direkter Verknüpfungen in Homematic IP eine Ausfallsicherheit, die weit jenseits von dem liegt, was mit rein zentralen-basierten Systemen zu erreichen ist. Wer möchte das Licht im Bad nicht nutzen können, bis eine defekte Smart-Home-Zentrale ausgetauscht wurde? Und dabei ist genau das heute der Standard im Smart Home. Ich finde, das kann doch nicht ernst gemeint sein.

Bei Advanced Routing und auch ganz allgemein bei Homematic IP waren wir frei, wie wir IPv6 auf Basis der Erfahrung aus Jahrzehnten mit FS20, Homematic, MAX! oder auch dem RWE Smart Home gestaltet haben. Bei Amazon Alexa und Google Assistant hatten und haben wir eine sehr produktive Kooperation, die recht schnell zu soliden Lösungen geführt hat.

Bei HomeKit müssen wir uns an die Vorgaben von Apple halten. Apple erlaubt bis heute leider keine Integration mit HomeKit über die Cloud und verlangt, dass ein Gateway im Haus sein muss. Das steht gegen unser Verständnis von Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit. Wir sind hier aber optimistisch, dass Apple dies ändern wird. Apple hat seine Regeln in den letzten Jahren stark verändert. Anfangs war es strikte Bedingung, dass alle Geräte mit HomeKit einen Security Chip von Apple enthalten müssen.

Die Nutzer von Homematic IP teilen sich heute im Wesentlichen in zwei Gruppen: Access Point-Nutzer und CCU-Nutzer. Was ist Deine Sicht dazu?

Wir könnten lange sprechen, wie sich die Nutzer unterscheiden und wie es in mehr als 15 Jahren mit zuerst Homematic und seit 2015 auch Homematic IP zu der Unterteilung gekommen ist. Auch heute hat beides seine Berechtigung und wird von uns weiterhin unterstützt.

Mit einer lokalen Zentrale, d.h. einer CCU3 oder auch einer eigenen Hardware basierend auf einem Raspberry und der von uns frei zur Verfügung gestellten OCCU Softwareplattform habe ich praktisch beliebige Freiheit, wie ich mein System gestalte. Hier stehen diverse kommerzielle, aber vor allem auch Open Source Plattformen zur Verfügung, mit denen ich mein System erweitern, integrieren, aber auch bedienen kann. Wer programmieren möchte, wird sich heute mit der CCU wohler fühlen.

Mit der Homematic IP Cloud erhalte ich eine kostenlose Lösung, für die ich sofort die dazugehörigen Smartphone Apps nutzen kann. Hier steht die Einfachheit der Installation, Konfiguration und Bedienung im Vordergrund. Cloud und Apps sehe ich als ideale Lösung für die meisten Anwender. Persönlich war ich auch überrascht, wie viele Elektrofachbetriebe bei Homematic IP auf die Cloud setzen und die CCU3 nicht mehr primär verwenden. Inzwischen gibt es auch spannende Produkte von Partnern, mit denen ich meine Homematic IP Cloud-Lösung erweitern und mit anderen Produkten integrieren kann. Wir werden es noch stärker unterstützen, dass auch die APIs der HmIP Cloud und nicht nur die CCU-Software in der Community und für Partner offen zugänglich sind.

Persönlich habe ich eine einfache Sicht: Die erste Stufe in der Digitalisierung war, dass digitale Systeme lokal im Haus genutzt wurden. Ich denke hier an die CD, an DVDs, Blue Ray, aber auch an Napster, iTunes, Musik und File auf dem NAS. Wir erleben heute eine Zeit, in der Inhalte und Dienste immer mehr geteilt und von beliebigen Orten genutzt werden. Die Cloud finde ich weder gut, noch schlecht, sondern schlicht bequem. Ich hatte früher einmal eine Unix-Server mit Sendmail für Email via ISDN am Netz. Heute nutze ich die Cloud, ohne mir wirklich Sorgen machen zu müssen.

Die Frage ist für mich, wie ich für welche Dienste mit der Security umgehe. Bei Spotify, Netflix und Prime mache ich mir angesichts der Daten kaum Sorgen. Bei Email sende ich Wichtiges nicht, ohne mit S/MIME zu authentisieren und zu verschlüsseln. Deshalb habe ich Wert daraufgelegt, dass bei Homematic IP die Protokoll-, IT und Datensicherheit vom VDE zertifiziert ist und die Cloud komplett anonym betrieben wird.

Beim Gedanken an 2021, auf was freust du dich und auf was können sich Homematic IP Nutzer freuen?

Bei Homematic IP konzentrieren wir uns weiter darauf, eine Lösung zu schaffen, die als einzige von sehr unterschiedlichen Kanälen an sehr unterschiedliche Arten von Kunden vermarktet wird und damit in Europa Marktführer bei Smart Home Systemlösungen geworden ist. Natürlich können sich unsere Nutzer auch in 2021 auf neue Produkte freuen, mit denen sie ihr Smart Home erweitern können.

In 2020 ist es mir sehr schwergefallen, unser User Treffen in Kassel abzusagen. Angesichts der Anmeldungen bis zu Absage, war eine Teilnehmerzahl von über 600 sicher. Entsprechend hoffe ich sehr, dass ab 2021 wieder Messen und Events auf dem Programm stehen. Bei aller Liebe für Skype, WebEx, Zoom & Co. würde ich gerne wieder sowohl mit unseren Anwendern. als auch mit alten und neuen Partnern persönlich ins Gespräch kommen. Zugleich hoffe ich sehr darauf, dass alle in unserer Community gesund durch diese Pandemie kommen werden.

Wir danken Bernd Grohmann für das Interview.